Kovač: Die Kurzsichtigkeit der EU muss ein Ende haben
Kroatien und die EU sind für die Zukunft von Bosnien und Herzegowina verantwortlich
ZAGREB - Immer wieder wird das Land Bosnien und Herzegowina (BiH) als Pulverfass in Europa und als Rekrutierungsland des „IS“, des Islamischen Staates beschrieben. Im Februar hat das Land seinen Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) offiziell in Brüssel eingereicht. Vor dem Jahr 2025 wird dem Land vielerorts keine Chance zur Mitgliedschaft ausgerechnet. Viele Veränderungen müssen zuvor im Staat Bosnien und Herzegowina umgesetzt, auf europäischen Standard gebracht werden. Das Land auf dem Westbalkan kann der EU für die eigene Zukunft aber nicht gleichgültig sein. Wie wird das im unmittelbaren Nachbarstaat Kroatien gesehen und beurteilt? In einem Interview mit dem kroatischen Außenminister Miro Kovač erhielt der Journalist Winfried Gburek deutliche Stellungnahmen.
Gburek: Immer stärker werden die radikalen Kräfte des Islam auf dem Westbalkan. Gezielte Ansiedlungen auch an der Grenze zur Republik Kroatien machen von sich Rede. Es heißt immer wieder: Die Außengrenze Kroatiens und somit der EU ist sehr löchrig. Es ist für den IS ein leichtes, von dort nach Westeuropa einzudringen. Wie sachätzen Sie die Gefahr des radikalisierten Islam in BiH ein?
Kovač: Die Gefahren des radikalen Islam gibt es in allen Ländern des westlichen Europas. Auch in den großen urbanen Zentren. Wir haben aus Kroatien heraus seit langem auf die Gefahren der Ausbreitung des radikalisierten Islam in unseren Nachbarstaaten und somit auch in BiH hingewiesen. Deshalb sagen wir auch ganz klar und deutlich, dass wir alles dafür tun müssen, um BiH an Kroatien fester zu binden, wie an die EU generell. Es geht dabei weniger um die Mitgliedschaft, als um den Prozess. Dass Kroatien und die EU in BiH präsenter werden. Auf diesem Feld müssen wir uns besonders stark engagieren. Dazu haben wir in Kroatien ein sehr gutes Modell. In diesem Jahr konnten wir den 100. Jahrestag der Anerkennung des Islam als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft begehen. Aber auch, wenn wir nur knapp ein Prozent Muslime in der Bevölkerung des Staates haben, müssen wir verhindern, dass die Radikalisierung unter den Moslems in BiH und anderswo Fuß fasst. Ich habe nur das Gefühl, dass viele in der EU, gerade im westlichen Europa, diese Gefahr nicht sehen und man die Sache daher auch nicht so ernst nimmt. Die Situation der zunehmenden Ausbreitung des radikalen Islam wird verkannt. Das ist nicht akzeptabel. Deshalb ist es gerade in Kroatien unsere Aufgabe, als Mitglied der EU, tagtäglich dafür zu sorgen, dass diese Gefahren nicht vergessen werden.
Gburek: Wie ist ihr Eindruck als Außenminister der Republik Kroatiens: Ist es den Politikern in BiH überhaupt ein Anliegen, dass das Land Mitglied in der EU wird? Vielleicht viel weniger als den Bürgern?
Kovač: Wir haben uns sehr stark dafür eingesetzt, dass Mitte Februar der Beitrittsantrag von BiH eingereicht wurde. Und ich wage zu sagen, dass die Bevölkerung von BiH für einen Beitritt in die EU ist. Auch wenn es noch lange dauern wird. Aber ich habe gleichzeitig auch den Eindruck, dass auch die politische Elite sich in diese Richtung bewegt, trotz der Schwierigkeiten, die es gibt. In diesem Jahr haben wir die Chance, alle davon zu überzeugen, diesen Weg in der bosnisch-herzegowinischen Politik wirklich zu gehen.
Gburek: Für den Beitritt wird es vor allem auf die Erfüllung der Standards ankommen. Auf welche Standards wird es in BiH für den Beitritt in die EU besonders ankommen?
Kovač: Dabei geht es um die Grundwerte der EU. Ohne die Erfüllung dieser Grundkriterien geht es nicht, kann sich das Land gar nicht in Richtung EU bewegen. Eine wesentliche Voraussetzung ist somit die Einführung einer funktionierenden Demokratie nach Kopenhagener Kriterien. Außerdem die Einhaltung der Menschenrechte und eine funktionierende Marktwirtschaft. Ebenso wichtig ist die Herstellung eines funktionierenden Gesamtstaates. Und der Gesamtstaat kann nicht ohne die Gleichberechtigung der drei Staatsvölker – der Muslime, der Serben und der Kroaten – funktionieren. Und wir werden uns für die Gleichberechtigung der Kroaten in BiH deutlich einsetzen. Das ist auch unsere verfassungsgemäße Pflicht. Unsere Position hierbei steht fest: Ohne die Kroaten in BiH, die auch eines der drei Staatsvölker sind, gibt es kein Gesamtstaat BiH. Und ich sage auch ganz klar: ohne die Kroaten in BiH, ohne den Einsatz der Kroaten in BiH für BiH, Anfang der 90-er Jahre, als der Krieg begann, gäbe es BiH heute gar nicht mehr als Staat. D. h., die Kroaten waren diejenigen, die sich für den Erhalt des Staates BiH eingesetzt haben. Es ist außerdem bekannt, dass die Kroaten mit den Bosniaken beim Referendum im Jahr 1992 für die Einheit des Staates gestimmt haben.
Gburek: Ist es richtig zu sagen, das BiH aber weiterhin ein Pufferstaat in Europa darstellt. Zum Beispiel gegenüber der Türkei und Russland? Die Türkei zeigt sich mehr und mehr interessiert an diesem Land. Wirtschaftliche Interessen spielen dabei eine große Rolle. Der Kauf von Einrichtungen durch die Türken nimmt weiterhin zu. Der russische Staat verhält sich etwas verhaltener, aber er hat deutliche Kontakte zur Republik Srpska. Welche Rolle spielen diese Staaten auf dem Weg von BiH in die EU?
Kovač: Die Türkei ist nicht nur auf dem westlichen Balkan präsent, sondern auch in anderen Ländern Europas. Das gilt auch für Russland. Daher gibt es auch Länder Europas, die sich derzeit für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland einsetzen. Gerade im westlichen Europa, aufgrund eigener wirtschaftlicher Interessen. Der Unterschied gegenüber den Ländern im Südosten Europas besteht hierbei darin, dass sie einfach zerbrechlicher, fragiler sind. Die Gesellschaftsstrukturen, die Staatsstrukturen sind schwächer. Und deswegen spürt man den Einfluss von der Türkei und Russland dort stärker. Aber Russland und die Türkei sind in den Ländern ganz Europas präsent. Doch die EU hat auch die Bestrebungen sowohl Russland als auch der Türkei, zu expandieren, lange unterschätzt. Auf eigene Kosten.
Gburek: Was heißt das, auf eigene Kosten?
Kovač: Europa hat einfach seit Jahren kein Interesse, an einer wirklich aktiven Rolle in Bezug auf Südosteuropa einzunehmen, besonders mit Blick auf BiH und zum Beispiel auch Mazzedonien.
Gburek: Wie erklären Sie sich dieses Desinteresse? Denn BiH ist kein plötzlich auftretendes Gebilde auf der Landkarte. Die jüngste Geschichte hat besonders offenbart, was sich dort abspielt.
Kovač: Es ist die Kurzsichtigkeit der europäischen Politiker.
Gburek: Was wäre hierbei Ihre erste Forderung an die EU?
Kovač: Das wir gerade auch jetzt, angesichts des Brexit, stärker zueinander finden. Es ist sehr schlecht, dass wir zurzeit zwei Diskurse haben in der EU. Einmal den Diskurs im sogenannten alten Europa und den Diskurs im sogenannten neuen Europa. Wenn wir nicht zueinander finden, dann werden wir zerbrechen.
Gburek: Neueste Zahlen sagen, dass im Jahr 2015 rund 100.000 Menschen das Land BiH verlassen haben. Welche Möglichkeiten, Initiativen würde Kroatien im Land ergreifen, um BiH hierbei zu helfen, dass die Menschen im Land bleiben und nicht abwandern. Denn bisher gehen sie mehrheitlich, weil sie keine Zukunft im Land BiH sehen.
Kovač: Ja, die Menschen werden nur bleiben, wenn sie in ihrem Land eine Zukunft für sich und ihre Familien sehen. D. h., wenn ausreichend Arbeitsplätze geschaffen werden, wenn politische Stabilität herrscht. Wenn nicht genügend Stabilität in BiH gegeben ist, wenn nicht ausreichend Arbeitsplätze vorhanden sind, werden die Menschen weiterhin auswandern. Wir brauchen daher nicht nur einen Einsatz von Kroatien, wir brauchen einen Einsatz der großen EU-Länder. Wir brauchen eine starke Wirtschaft in BiH, damit die Menschen bleiben. Aber sie werden auch nicht bleiben, wenn sie im westlichen Europa oder anderswo leichter einen Job finden und normal leben können von dem Gehalt, den sie zum Beispiel in Deutschland erwerben können.
Gburek: Aber muss nicht auch Kroatien dort wirtschaftlich aktiver werden?
Kovač: Bosnien gehört zu den wichtigsten Handelspartner Kroatiens. Deutschland ist unser erster Handelspartner, dann kommt Italien und Slowenien. BiH ist unser viertwichtigster Handelspartner. Wir haben somit bereits sehr starke wirtschaftliche Beziehungen zueinander. Und wir wünschen uns noch mehr Investitionen aus Kroatien in BiH. Es gibt viele Investitionen in BiH. Gerade auch in den Gebiten, wo die Kroaten die Mehrheit stellen. Wir müssen aber auch gezielte Förderprojekte in Kroatien unterstützen, damit die Menschen auch in Kroatien bleiben. Unser Problem ist, dass auch viele Menschen aus Kroatien abwandern. Im Jahr 2015 waren es 50.000 kroatische Staatsbürger, die wir in unserem Land verloren haben, zugunsten nur eines EU-Mitgliedstaates, nämlich zugunsten Deutschlands. Etwa 40.000 Kinder werden jährlich in Kroatien geboren. Wenn 50.000 abwandern, dann bedeutet das wiederum, dass mehr Kroaten abwandern als geboren werden. Und das schon seit 2013. Und die Zahl der Abwanderungen gerade in Richtung Deutschland steigt weiter an.
Gburek: Also die gleiche Tendenz wie in BiH.
Kovač: Genau. Das kann man ihnen auch nicht übel nehmen. Oftmals geht es ihnen nicht nur um die finanziellen Einkünfte. Es geht ihnen viel mehr um die gesellschaftliche und politische Stabilität. Vor allem für die Familie.
Gburek: Manche sagen, sie würden gern in BiH bleiben oder auch als Vertriebene zurückgehen. Es ist ihnen aber für sich selbst und die Familie zu unsicher. Ängste bestehen und prägen die Entscheidung. Ist es aus allem gemeinsam betrachtet dann richtig, BiH als ein herkunftssicheres Land zu bezeichnen? Mir fehlt hier eine differenzierte Definition für einen derartigen Beschluss der EU. Ich glaube, dass man diese Formulierung so pauschal nicht auf alle Staaten Osteuropas übertragen kann.
Kovač: Mit einem herkunftssicheren Staat meint die EU, dass dort keine politische Verfolgung stattfindet. Politische Verfolgung konkret findet dort nicht statt. Natürlich, wenn es um die Kroaten geht, sehen wir schon die Gefahr, dass sie marginalisiert werden. Weil sie einfach das kleinste der drei Staatsvölker sind. Aber BiH wird in erster Linie von den Menschen verlassen, weil sie in diesem Land nicht wirklich eine Perspektive für sich und ihre Familie sehen. Wie gesagt, deshalb brauchen wir Investitionen in BiH. In den vergangenen fünf Monaten bin ich oft in BiH gewesen. Ich war z.B. in der Herzegowina, in Mittelbosnien, in Banja Luka. Da haben sie wirtschaftliche Aktivität, da passiert etwas und die Menschen bleiben dort, weil sie Arbeitsplätze haben. Viele junge Leute machen ihre Ausbildung in Kroatien, in Deutschland oder anderswo, kommen dann zurück, weil sie z.B. im Familienbetrieb arbeiten oder ihn von den Eltern übernehmen. Es bleibt dabei: Überall dort, wo Investitionen stattfinden, wo wirtschaftliche Aktivitäten entsteht oder vorhanden ist, bleiben die Menschen.
Gburek: Dazu kann es aber erst kommen, wenn die Infrastruktur stimmt. Sowohl für die Wirtschaft, als auch für die Bürger, die in irgendeinem Teil des Landes wohnen möchten. Da mangelt es aber bisher deutlich.
Kovač: Ja, das stimmt. Es geht alles sehr langsam voran. Wir brauchen auch dazu einen gesamteuropäischen Plan für BiH. Kleine, einzelne Pläne sind zu wenig. Wir können uns einen heutigen Zerfall BiH in Europa nicht leisten. Das wäre eine Katastrophe.
Gburek: Was bedeutet hierbei der Vertrag von Dayton?
Kovač: Wir hätten uns in Europa schon längere Zeit mit dem Vertrag von Dayton genauer beschäftigen müssen. Wir hätten uns auch viel früher und stärker einsetzen müssen, für eine Neuordnung von BiH. Dass das nicht geschehen ist, ist auch eine Kurzsichtigkeit der EU-Politik. Wir Kroaten konnten es nicht. Wir waren in einem EU-Beitrittsprozess und mussten zahlreiche Kompromisse eingehen. Wir hatten auch keine Kraft mehr. Kroatien ist eines der Länder, die mit seiner Unterschrift für die Einhaltung des Daytoner Friedensvertrages garantiert hat. D. h., wir sind als Land und als Staat mitverantwortlich für den Staat BiH. Offensichtlich funktioniert dieses Modell des Staates BiH nicht gut genug. Es wäre natürlich gut, wenn es uns gelänge, mit den wichtigen Partnern, mit der EU und den USA, ein besseres Gefüge für den Gesamtstaat BiH hinzubekommen. Das ist völlig klar.
Gburek: Was tut besonders weh, weil noch nichts weiter mit Blick auf Dayton geschehen ist? Wo sind die Brennpunkte?
Kovač: Wir haben zurzeit zwei Entitäten in BiH. Wir haben die Föderation, in der Bosniaken und Kroaten das Hauptwort führen. Wir haben dann auch die serbische Entität. Offensichtlich ist das nicht effizient genug. Wie das neue Modell aussehen sollte, ist eigentlich eine Sache, die primär von den drei Staatsvölkern BiH´s ausgetüftelt werden müsste. Die Frage ist natürlich, ob genügend Kraft besteht und ob der Wille dafür da ist in BiH – und in den drei Staatsvölkern, diese Neuordnung des Landes hinzubekommen. Aber meiner Meinung nach kann es nur mit den wichtigen Partnern gelingen. Es wird ein komplizierter Prozess, aber wir müssen diesen Weg mit BiH gehen. Das ist langfristig die einzige Lösung. Trotz der jetzigen Turbulenzen in der EU, die wir mit dem Brexit haben.
Gburek: Kann es sein, dass nach dem Brexit von Großbritannien die Verhandlungen zur Aufnahme von BiH in die EU leichter verlaufen?
Kovač: Das ist noch nicht abzusehen, ob es leichter wird oder nicht. Ich bin aber der Auffassung, dass die Motivation der Länder Südosteuropas – der dortigen Bevölkerung und Politik – der EU beizutreten, nicht schwinden wird. Nur dürfen wir es uns nicht leisten, Gefangene des Referendums in Großbritannien zu werden. Wir brauchen Klarheit und wir brauchen jetzt einen guten abgestimmten Mechanismus, damit wir jetzt nicht Opfer der Austrittsprozedur werden. Es könnte sonst passieren, wenn jetzt nicht sehr bald auch der Antrag auf den Austritt eingereicht wird, dass wir uns zu sehr um Großbritannien, als um unsere Zukunft Europas kümmern. Wir müssen jetzt aufpassen, dass wir unter dieser Situation des Brexit nicht kaputt gehen, sondern den Diskurs unter den Gründungsländern im alten Europa und dem neuen Europa fortsetzen. Wir können uns nicht weiterhin zwei Diskurse, zwei getrennte Denkansätze leisten. Kroatien, glaube ich sagen zu dürfen, versteht sowohl das alte als auch das neue Europa. Wir sind dazwischen. Und hierbei kann Kroatien eine gute, eine verbindende Rolle spielen.
Gburek: Wie sieht es mit BiH bezüglich der Sicherheit nach Innen und Außen aus? Rund eine Million Waffen befinden sich in BiH, 300.000 in privater Hand und 700.000 aus dem letzten Krieg. Dazu kommen größere Mengen Sprengstoff. Ist das nicht eine Gefahr für die innere und äußere Sicherheit?
Kovač: Ich sehe zurzeit nicht, dass es in BiH zu einem neuen Krieg kommen könnte. Die Menschen wollen Frieden. Die Bevölkerung hat den Wunsch, hierbei auch zusammen zu arbeiten. Auch zwischen den Staatsvölkern. Man ist sich des gemeinsamen Schicksals bewusst. Natürlich gibt es immer wieder Träume, auch Wünsche, aber die Menschen sind realistisch. Aber wir müssen ein neues Modell für die drei Staatsvölker des Landes und somit für den Staat insgesamt finden. Außerdem brauchen wir in BiH einen wirtschaftlichen Boom, damit es nach vorne geht. Und wir brauchen ein Europa, das sich auf BiH hin engagiert. Wer kann am meisten tun für BiH? Wessen Pflicht ist es, am meisten für BiH zu tun? Kroatien! Es ist die Pflicht Kroatiens. Als Nachbarstaat, der es mit dem Dayton-Vertrag garantiert hat, mit eigener Verfassung den Auftrag hat, sowie selbst Mitglied der EU und der NATO ist. Das muss uns immer bewusst sein und so müssen wir in der EU deutlich auftreten. Ich trete in diesem Sinne so deutlich auf.
Winfried Gburek - 6.7.2016